Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse
Maxim Leo
Kiepenheuer & Witsch
2022
Ooch, nicht schon wieder so eine ´Ost-West-Geschichte` dachte ich. Doch dann begann ich zu lesen von Michael Hartung, dem Loser mit der Videothek im Osten der Hauptstadt und von Alexander Landmann, dem Spätaussiedler mit kasachischen Wurzeln, der als Journalist zum 30. Jahrestag des Mauerfalls eine besondere Geschichte in alten Stasiakten gefunden zu haben glaubt. Durch einen gebrochenen (oder manipulierten?) Weichenbolzen fuhr eine DDR-S-Bahn 1983 in einer Sommernacht am Bahnhof Friedrichstrasse in den Westen und 127 DDR-Bürger in die Freiheit. Dass die meisten von ihnen freiwillig sofort wieder in den Osten zurückfuhren will niemand wissen und Landmann will den ehemaligen Eisenbahnstellwerker Hartung zum Helden machen. Dieser ziert sich zunächst und erklärt, dass alles nur ein Missgeschick war, aber Landmann lässt nicht locker, verspricht viel Geld und schreibt mit viel Dramatik und Pathos seine Heldengeschichte. Hartung wird im ganzen Land gefeiert, alle sonnen sich in seinem Licht, aber er spürt, dass dieses Glück nicht ewig währt. Als er bei den Feierlichkeiten zum Mauerfall im Bundestag eine Rede halten soll, fasst er sich ein Herz, denn er will seine Tochter und seine neue Liebe Paula nicht verlieren. Maxim Leo beschreibt, was mit Geschichtsschreibung passieren kann durch ein bisschen Verschiebung der Tatsachen und wie historische Fakten manipuliert werden können. Was ist Wahrheit und wo beginnt die Lüge? Er hat herrliche Charaktere geschaffen mit Fr. Dr. Munsberg aus dem Kanzleramt, Holger Röslein, dem Leiter des Dokumentationszentrums Unrechtstaat in der DDR oder Fritz Teubner, dem ehemaligen Stasi-Oberstleutnant. Das Buch lässt oft schmunzeln, manchmal lauthals lachen und hat dennoch Tiefgang. Eine absolute Leseempfehlung!