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Lesetipps
LESETIPPS
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Bannmeilen
Anne Weber
Matthes & Seitz Berlin
2024
Als ihr Freund Thierry der Erzählerin vorschlägt, ihn auf Spaziergängen durch die Pariser Banlieues zu begleiten um einen Drehort für sein nächstes Filmprojekt zu suchen, dachte sie noch, was gibt es denn dort zu sehen? Ein Geflecht aus Schienen, Schnellstrassen und Autobahnen, gewaltige Supermärkte und Baustellen, riesige Wohnsilos, in den Millionen von Menschen leben. Doch muss sie sich eingestehen, dass sie jahrzehntelang blind gewesen ist für die nächste Nähe. Da sind zum Beispiel der von Schrotthalden umgebene muslimische Friedhof von Bobigny, auf dem ein algerischer Olympiasieger der 1920er-Jahre begraben liegt; die beiden kreisrunden Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand, die einander wie gigantische Camemberts gegenüberstehen; und tausend andere von Kolonialismus und Leid, von Hoffnung und Fortschritt erzählende Orte. Die Geschichte Frankreichs, der Algerienkrieg oder ein Durchgangslager für Juden, spielen eine Rolle und auch Thierry selbst entpuppt sich mit der Zeit als Teil dieser widersprüchlichen, ihrem Blick bislang verborgenen Welt. In einer sehr empathischen Art schreibt sie von den Menschen und deren Geschichte und auch wenn das Buch „nur“ von Spaziergängen handelt, ist es wunderschön zu lesen und keinen Moment langweilig!
Geordnete Verhältnisse
Lana Lux
Hanser
2024
Lana Lux erzählt die Geschichte von Faina und Philipp, die sich in den 90er Jahren kennenlernen und eine tiefe Freundschaft entwickeln. Der rothaarige Philipp führt ein einsames Leben zwischen alkoholkranker Mutter und strengkatholischer Tante. Faina, ein jüdisch-ukrainisches Einwandererkind ist ebenfalls rothaarig und kommt als 10jährige in Philipps Klasse. Die beiden Aussenseiter werden Freunde, eine Freundschaft, die für Philipp überlebenswichtig wird. Er ist ein sehr bestimmender und kontrollierender Mensch, der keine körperliche Nähe erträgt und Tiere lieber als Menschen mag. Faina ist dagegen eine sehr neugierige, lebenslustige Person. Als junge Erwachsene verlässt Faina Philipp schliesslich, als er ihren alten, kranken Hund ohne ihr Einverständnis einschläfern lässt. 15 Jahre später ist Philipp ein wohlhabender junger Mann mit Eigentumswohnung. Faina hat ein Studium abgebrochen, sich in Israel in sexuelle Abenteuer gestürzt und kehrt schwanger und mittellos zurück zu Philipp, der sich nun als Vater und Partner um Faina und das Kind kümmern will. Das Zusammenleben wird zunehmend schwieriger, Faina sucht Freundschaften und Sex mit Männern und Frauen. Philipp dagegen hat sich nicht unter Kontrolle, es kommt zu Demütigungen und rassistischen Äusserungen, vermehrt zu Gewaltausbrüchen. Eine toxische Beziehung, die schliesslich eskaliert. Die Autorin nimmt die LeserInnen mit auf eine emotionale Achterbahn. Zunächst verfolgt man die Geschichte aus der Sicht von Philipp, anschließend aus Faina’s Perspektive und im letzten Teil kommen beide Figuren als Ich-Erzählende zu Wort. Schonungslos offen schreibt Lana Lux über die Beziehung der Protagonisten. Sie versteht es zu fesseln, da sie zahlreiche Alltagsthemen in Extremen, aber ohne zu überzeichnen einbaut. Es wird nachvollziehbar, wie schwierig es ist einer toxischen Beziehung zu entkommen. Eine Erzählung mit Sogwirkung und überzeugendem Ende.
Wir werden jung sein
Maxim Leo
Kiepenheuer & Witsch
2024
Vier Patienten an der Berliner Charité nehmen an einer Medikamentenstudie gegen Herzmuskelentzündung teil. Die fünfte Dosis nimmt der Arzt und Studienleiter selbst ein. Der kranke Herzmuskel regeneriert sich, aber das Medikament wirkt weiter. Die Patienten verjüngen sich. Eine ehemalige Olympiaschwimmerin z. B. erzielt mit Mitte 30 neue Rekorde und Jakob, eigentlich gerade frisch verliebt, kann mit Mädchen plötzlich nichts mehr anfangen. Und der alte schwerkranke Unternehmer, auf dessen Tod die Erben warten, weiss plötzlich nicht mehr, was er mit so viel neuer Kraft und Energie eigentlich machen soll. Maxim Leo beschreibt, welche Probleme entstehen können und ob es überhaupt erstrebenswert wäre, ewige Jugend zu erhalten. Sein Roman bietet nicht nur beste Unterhaltung, sondern behandelt die moralischen, ethischen und gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen einer solchen Entwicklung. Der Autor hat sehr gut recherchiert und sich unter anderem mit Molekularbiologen und Genetikern besprochen. Ein brillant geschriebenes Lesehighlight, dabei tiefsinnig und sehr zum Nachdenken anregend.
Trophäe
Gaea Schoeters
Hanser
2024
Gaia Schoeters Roman „Trophäe“ liest sich wie im Rausch, provozierend radikal mit moralischen Abgründen. Der wohlhabende Amerikaner Hunter, dessen Vater und Großvater bereits leidenschaftliche Jäger waren und ihm mit seinem Namen praktisch seine Bestimmung in die Wiege legten, erhält von seinem Freund und Jagdveranstalter van Heeren das Angebot, ein Spitzmaulnashorn zu schiessen. Nach Löwe, Leopard, Büffel und Elefant, die Krönung für den Jäger mit den „Big Five“. Wilderer durchkreuzen allerdings die Pläne und Hunter will sich rächen. Als Van Heeren ihm die „Big Six“ vorschlägt, ist er zunächst geschockt, verliert aber nach und nach die Scheu und überschreitet schliesslich eine Grenze. Die niederländische Autorin erzählt diesen extremen Roman mit einer solchen Wucht, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann. Ihre Beschreibungen der Natur in all ihrer Wildheit und Schönheit sind atemberaubend. Spannend und atmosphärisch – ein Lesehighlight!
Der Horla
Guy de Maupassant
Reclam
2023
Nach langem Warten (von Seiten der Buchhandlung jedenfalls) nun endlich neu übersetzt und schöner aufgemacht denn je: Von den italienischen Balbusso-Zwillingen illustriert wird de Maupassants Novelle im Tagebuchstil atmosphärischer denn je. Der langsame Abstieg in den Wahnsinn wird unterstrichen und verbildlicht, ohne das Element der Unwissenheit zu vermindern. Denn während der Erzähler sich sicher ist, dass sein Willen im Schlaf von keinem anderen als dem Horla manipuliert wird und auch die sich selbst umblätternden Buchseiten dessen Werk sind, gibt es bei der Beweissuche ein Problem: der Horla ist nämlich unsichtbar. Die unvermeidlich scheinende Abwärtsspirale lässt auch den Leser immer wieder zwischen der Existenz des Wesens und der Unzurechnungsfähigkeit des Erzählers hin- und hergerissen.
Die Insel der Tausend Leuchttürme
Walter Moers
Penguin Verlag
2023
Als kleines Kind wurde Walter Moers zu einer langen Asthmakur auf eine Insel verschickt. Ein traumatisches Erlebnis , welches ihn zum Schreiben dieses Buches inspirierte. Darin erzählt der aus früheren Werken bekannte Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz in Briefen seinem Freund Hachmed von einem Kuraufenthalt auf der Insel Eydernorn. Alles könnte so erholsam sein, wären da nur nicht die immer bedrohlicher werdenden Begegnungen mit der örtlichen Natur: hungrigen Belphegatoren und aufdringlichen Strandlöpern, monströsen Frostfratten, schaurigen Wolkenspinnen und dem gefährlichsten Dämon aus der Tiefe des zamonischen Ozeans, dem sagenumwobenen Quaquappa. Mit seinen 635 Seiten und über hundert Zeichnungen hat Walter Moers wieder ein sagenhaftes Epos geschaffen, welches auch als Hörbuch ein Genuss ist.
Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht alleine im Louvre
Alikavazovic, Jakuta
Hanser Verlag
2023
Mit „Wie ein Himmel in uns“ erschafft Prix Goncourt du Premier Roman Trägerin Jakuta Alikavazovic die einzigartige Atmosphäre des Louvre bei Nacht. Sie nimmt sich Zeit für Details und Betrachtungen, welche ihr, ausgestattet mit Taschenlampe und eingeschmuggeltem Nougat, plötzlich ganz anders erscheinen als inmitten der täglichen 25 000 Besuchern. Von einigen der wichtigsten Kunstschätze Frankreichs umrundet schreibt sie jedoch keinen puren Sachbericht; der Aufenthalt gibt ihr die Möglichkeit, ihre Beziehung zum verstorbenen Vater besser zu beleuchten an einem Ort, der sich zu seinen Lebzeiten zur zweiten Heimat des Exilanten entwickelt hatte. Für „Wie ein Himmel in uns“ erhielt Alikavazovic den Prix Médicis.
Empusion
Olga Tokarczuk
Kampa Verlag
2023
Ein Sanatorium für Lungenkrankheiten in Niederschlesien. Eine Herrenrunde, die auf Heilung hofft und die sich jeden Abend im Gästehaus versammeln. Mit dabei ist auch Mieczyslaw Wojnicz, ein Ingenieurstudent aus Lemberg. Während den Mahlzeiten diskutieren sie unermüdlich über Gott und die Welt und alle Gespräche führen immer wieder zur Weiblichkeit. Dabei werden den sexistischen Ansichten dieser Zeit rundum zugestimmt. Das alles erinnert natürlich sofort an Thomas Manns „Zauberberg“. Doch Olga Tokarczuk inszeniert ihre Variante mit gruseligen Zwischensphären. Es gibt wage Erzählerstimmen, namenslose Bewohnerinnen der Wände, die den Herren an den gestärkten Kragen gehen möchten. Wojnicz, der mit einem Über-Vater-Ich ringt und in einem Nicht-binären Körper zuhause ist, scheint in grosser Gefahr zu leben. Die Verbindung zwischen Natur, Weiblichkeit, Begierde und Tod ist von Anfang an präsent. Ein brillantes, weibliches Spiegelbild zum Zauberberg!
Die leeren Schränke
Annie Ernaux
Suhrkamp
2023
Sie war 34 Jahre alt als ihr Erstling „Die leeren Schränke“ 1974 im Verlag Gallimard in Paris erscheint. Weitgehend autobiografisch geprägt, erzählt Annie Ernaux die Geschichte der zwanzigjährigen Literaturstudentin Denise Lesure. Zu Beginn des Romans sitzt Denise in ihrem Zimmer und wartet, dass der Körper die Abtreibung vollzieht, welche eine Engelmacherin im Verborgenen eingeleitet hat. Nach und nach erzählt Denise ihre Geschichte. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen zwischen dem Laden ihrer Mutter und der Kneipe ihres Vaters, studiert sie anschliessend Literatur. Schonungslos und drastisch erzählt sie vom Abgrund, der zwischen ihrer Herkunft und der bürgerlichen Welt besteht. Annie Ernaux befasst sich in ihrem ersten Buch bereits mit vielen Themen, die sie in ihren späteren Werken ausarbeitete. Ein hartes, aber absolut lesenswertes Buch!
Gewässer im Ziplock
Dana Vowinckel
Suhrkamp Verlag
2023
Ein Sommer zwischen Berlin, Chicaco und Jerusalem, geprägt von grossen und kleinen Lügen, Glücksmomenten und Enttäuschungen. Mittendrin die 15-jährige Margarita. Aufgewachsen bei ihrem alleinerziehenden Vater, der in Berlin in einer jüdischen Gemeinde die Gebete leitet, wird sie in den Sommerferien nach Chicago zu ihren Grosseltern mütterlicherseits geschickt. Diese möchten ihr Ferien mit ihrer abwesenden Mutter ermöglichen und kaufen ihr kurzerhand ein Ticket nach Jerusalem. Gleich nach der Ankunft geht alles schief und auch die gemeinsame Reise von Mutter und Tochter steht unter einem schwierigen Stern. So beginnt eine rasante Familiengeschichte, die die Familienmitglieder zwingt, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Dabei wird die Geschichte mal aus der Sicht von Margarita, mal aus der Sicht des Vaters erzählt. In ihrem Debütroman trifft Dana Vowinckel die Sehnsüchte und Nöte von Teenagern meisterhaft und auch die Eltern werden sich in diesem Roman wiedererkennen!