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Lesetipps
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Blue Skies
T.C. Boyle
Hanser
2023
Die eine Hälfte der Welt steht unter Wasser, die andere war ausgedörrt und es gab eine Missernte nach der anderen. „Der Planet stirbt, siehst du das nicht?" mit diesem Satz bringt Cooper seine Mutter Ottilie dazu, Insekten zu essen und einen Grillen-Brutkasten anzuschaffen. Aus Plexiglas, wohlgemerkt, damit man den Larven beim Wachsen zusehen kann. Seine Schwester Cat kauft sich aus einer Laune heraus eine Tigerpython namens Willie, eine Würgeschlange, die sie sich als Schmuck um den Hals hängen möchte. Schon in der ersten Nacht verschwindet die Schlange aus dem Terrarium… Mit einer unglaublichen Ironie stellt T. C. Boyle in seinem neuen Roman unser Verhältnis zur Umwelt in Frage. Er zeichnet das Bild einer normalen US-Familie, im alltäglichen Kampf gegen die Klimakrise, in dem sich die kleinste Widrigkeit wie ein Zeckenbiss zur Katastrophe ausweiten kann. Es ist kein besserwisserischer Klimaroman, dafür ist Boyle viel zu clever, sondern er beschreibt mit viel Witz und einer Nonchalance, wie wir unserem Ende zusteuern. Mit einem Fünkchen Hoffnung!
Brüderchen
Clara Dupont-Monod
Piper
2023
„Brüderchen“ ist eine Geschwistergeschichte. Die Geschichte einer namenlosen Familie in einem Dorf in den Cevennen, bestehend aus Mutter, Vater, grossem Bruder, Schwester und eben dem Brüderchen, das als drittes Kind mit einer schweren Behinderung das Gleichgewicht in der Familie verändert. Erzählt wird die Geschichte von den Mauersteinen des Hauses, in dem sich alles abspielt. Der 10jährige grosse Bruder entwickelt eine tiefe Zuneigung für das Brüderchen und kümmert sich voller Hingabe, während die Schwester dem Brüderchen die Schuld gibt, ihr den grossen Bruder genommen zu haben. „ … er zog alle Energie auf sich. Die der Eltern und die ihres Bruders. Die Eltern kämpften, der Bruder verschmolz. Für sie selbst blieb nicht übrig, keine Kraft, die sie hätte tragen können.“ Als die Betreuung in der örtlichen Krippe nicht mehr möglich ist, kommt das Brüderchen in ein weit entferntes christliches Heim, wo es liebevoll von Nonnen betreut wird. Für den grossen Bruder zerbricht eine Welt, die Schwester fühlt sich befreit. Irgendwann stirbt das Brüderchen, der grosse Bruder bleibt als Einzelgänger zurück, die Schwester findet ihr Glück in Portugal und die Eltern ordnen ihr Leben neu, ohne das dritte Kind zu vergessen. Als die Geschwister längst erwachsen sind, bekommen die Eltern noch einmal einen Sohn. Der Nachgeborene ist das sensible Abbild des grossen Bruders wie auch des toten Kindes. Die Autorin schildert die Charaktere der Geschwister sehr authentisch und beschreibt auch die Natur in dieser französischen Bergregion wunderbar poetisch. Ein bemerkenswerter Roman über ein fragiles und gleichzeitig robustes Familiengefüge.
Carapax
Lisa Ginzburg
Nonsolo
2023
Zwei Schwestern – zwei Waisen, die keine sind – leben alleine mit ihrem Kindermädchen in einer Wohnung in Rom. Abwechslungsweise treffen sie die Eltern an den Wochenenden. Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein können, die jedoch durch fast symbiotische Gefühle miteinander verbunden sind und sich in dieser unermesslichen Leere Halt geben müssen. In diesem Roman beschreibt Lisa Ginzburg das Aufwachsen der beiden Mädchen, ihre Strategien, wie sie in dieser unhaltbaren Situation überleben und wie sich ihre Kindheit auf ihr Erwachsenenleben auswirkt. Es ist auch eine Geschichte, die zeigt, auf welch starken Beziehungen familiäre Strukturen gründen. Nicht umsonst wurde es für den Premio Strega in Italien vorgeschlagen!
Die spürst du nicht
Daniel Glattauer
Hanser Verlag
2023
Daniel Glattauer erzählt die Geschichte eines Unglücks, das juristisch keine Schuldigen hat, aber moralisch. Ayana, ein geflüchtetes Mädchen aus Somalia, besucht die Schulklasse von Sophie Luise, die zwar eine gute Schülerin, aber ebenfalls eine Aussenseiterin ist. Sophie Luises Mutter Elisa, eine bekannte Grün-Politikerin, erkämpft sich die Zustimmung von Ayanas Eltern, das Mädchen mit in den Toskanaurlaub zu nehmen. Mit einer befreundeten Familie reist man in eine Luxusvilla. Gleich am ersten Abend kommt es zur Katastrophe – Ayana ertrinkt im Pool. Aus verschiedenen Perspektiven beschreibt der Autor die Reaktionen und Gefühle der anwesenden Personen, ihre persönlichen Probleme und ihren Umgang mit dem Unglück. Da ist die Grün-Politikerin, die den schonungslosen Kommentaren im Netz ausgesetzt ist, die in der Schule gemobbte Sophie Luise, die nun in einer Internetbekanntschaft Halt und Trost findet, Elisas Freundin, die sich verzweifelt mit der Schuldfrage beschäftigt und die Männer beider Familien, die ganz rational damit umgehen. Als Ayanas Familie gerichtlich eine hohe Summe Schadensersatz einklagen will, versucht Elisas Mann mit Hilfe eines Top-Anwalts das Problem mit finanziellen Mitteln zu lösen. Am Ende erfahren wir Ayanas Geschichte, mit diesem Wissen wäre das Unglück nicht geschehen. Glattauer hat einen kritischen Roman über wichtige und tragische Themen in unserer Gesellschaft geschrieben ohne dabei auf Humor zu verzichten.
Bäume
Percival Everett
Hanser Verlag
2023
Eine mysteriöse Mordserie, die im Städtchen Money in Mississippi beginnt und sich schlussendlich auf ganz Amerika ausweitet, setzt die USA in Angst und Schrecken. Jede Leiche ist weiss, auf brutalste Weise ermordet, ähnlich wie die Lynchmorde in den 50/60-er Jahren. Neben der weissen Leiche findet die Polizei stets einen weiteren Körper, der die Züge von Emmett Till, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen, trägt und der der Polizei immer wieder abhanden kommt. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe weisser Rassisten setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Bei der Aufklärung der Morde suchen die Ermittler immer wieder Mama Z auf, die seit Jahrzehnten Buch über die Opfer der Lynchjustiz in Money führt. Der neue Roman von Percival Everett ist eine atemberaubende Mischung aus Thriller und Parodie, der die Trump-Befürworter immer wieder auf die Schippe nimmt und den ständigen Rassismus in den USA anklagt. Trotz der Brutalität der Morde ist es durch die umwerfende Komik in den einzelnen Passagen immer wieder ein herrliches Lesevergnügen.
Diese wilde Freude in mir
Samantha Silva
dtv
2022
In ihrem historischen Roman „Diese wilde Freude in mir“ (Original: Love & Fury) verfolgt Samantha Silva das Leben der Mary Wollstonecraft. Ihr Name wird heute oft eher mit ihrer Tochter, der Autorin Mary Shelley, in Verbindung gebracht, wobei sie eine der ersten engagierten Frauenrechtlerinnen war und ihr Werk fundamental für den modernen Feminismus ist. Bei Beginn des Buches steht Mary kurz vor der Entbindung ihrer zweiten Tochter. Der Hebamme Mrs. Blenkinsop ist schnell klar, dass es sich um eine schwierige Geburt handelt. Zur Ablenkung schlägt sie Mary vor, sie solle doch ihrem Neugeborenen von sich selbst und der Welt erzählen und während den elf Tagen, in denen Mrs. Blenkinsop nun um das Leben von Mutter und Kind kämpft, erfahren wir in einem zweiten Handlungsstrang von Marys Geschichte. Die problematische Familie, in der sie aufwächst, zeigt ihr früh, wieso sie selbst niemals von einem solchen Rollenbild abhängig sein möchte. Fortan schreibt sie gegen diese allgegenwärtigen aber trotzdem unausgesprochenen Ungerechtigkeiten an, tauscht sich mit anderen Revolutionären Geistern wie Heinrich Füssli, Joseph Johnson und nicht zuletzt William Godwin aus, den sie schlussendlich auch heiratet. Im Allgemeinen liest sich das Buch gut, ist dabei aber nicht banal geschrieben. Wir empfehlen es jedem, der mehr über die Geschichte des modernen Feminismus erfahren möchte und/oder generell gerne Bücher im biografischen Stil liest!
Sibir
Sabrina Janesch
Rowohlt
2023
„Sibir“ ist die Geschichte zweier Kindheiten. Die des Josef Ambacher, der als 10jähriger mit seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg wie hunderttausende Wolgadeutsche nach Zentralasien umgesiedelt wird, dabei Bruder und Mutter verliert und die seiner Tochter Leila in den 90er Jahren in Norddeutschland nach dem Zerfall der Sowjetunion. Sabrina Janesch beschreibt in ihrem autofiktionalen Roman die Erlebnisse ihres Vaters Josef in der Steppe von Nowa Karlowa, seine Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, den entbehrungsreichen Alltag, Josefs unentwegte Suche nach der verschwundenen Mutter und wie er heimlich deutsche Wörter sammelt, Reste alter deutschsprachiger Zeitungen unter dem Fußboden versteckt. 10 Jahre nach der Verbannung kann die Familie in die BRD umsiedeln, wo Josef in einer Norddeutschen Kleinstadt später seine Frau, eine Polin kennenlernt und die Tochter Leila aufwächst. Am Stadtrand wohnen die Familien der Rückkehrer, die doch keine Rückkehrer sind, weil sie nie hier lebten sondern aus einer Gegend kamen, die nun zur Sowjetunion gehört, sie nennen sich die „Altsibirer“ und treffen nun in den 90er Jahren auf die Neuaussiedler aus Kasachstan. Leila erforscht das Umfeld der Siedlung und der Schule mit ihrem Freund Arnold und macht, abgesehen von Hunger und Kälte, ähnliche Erfahrungen wie ihr Vater. Janesch erzählt die Handlung auf zwei Zeitebenen, sie macht dies so geschickt, dass es sehr stimmig und flüssig zu lesen ist. Ein lesenswertes Buch, in dem wir viel über das Leben der deutschstämmigen Zivilgefangenen in der Sowjetunion und das der Aussiedler erfahren, was so in den Geschichtsbüchern kaum vorkommt.
Frankie
Michael Köhlmeier
Hanser
2023
Der 14jährige Frank ist der Erzähler in Michael Köhlmeiers Roman. Ein sympathischer Junge, der mit seiner Mutter den Alltag in bescheidenen aber wohl geordneten Verhältnissen in Wien meistert. Sie genießen die gemeinsamen Fernsehabende, Frank kocht gerne für sich und seine Mutter, die als Garderobiere an der Oper arbeitet. Diese Idylle wird gestört, als Frank mit seiner Mutter den Großvater aus dem Gefängnis abholt. 18 Jahre hat dieser dort verbracht. Frank erfährt weder den wahren Namen seines Großvaters noch etwas über das Kapitalverbrechen, das dieser begangen hat. Seine Mutter hat große Angst vor ihrem Vater, doch Frank ist hin und her gerissen zwischen Abscheu und Faszination. Er sucht und findet Zugang zu diesem harten, zynischen Kerl, der ihn Frankie nennt und selbst nicht Opa genannt werden will. Frank hat keine gleichaltrigen Freunde, keinerlei Kontakt zu seinem Vater und so gerät er in den Bann des Großvaters, was nichts Gutes verheißt. Für den Teenager ist das Böse verlockend und die Geschichte erlebt eine unheilvolle Wendung als er zu diesem Ex-Knacki in ein gestohlenes Auto steigt. Ein Revolver ist ebenso im Spiel. Das Buch ist zuerst Familienroman, dann Roadmovie und am Ende ein Thriller. Köhlmeier erzählt kurzweilig, sehr spannend und auf den knapp 200 Seiten hinterlässt er Lücken, die dem Leser den nötigen Raum lassen für die eigene Phantasie. Am Ende bleibt die Leserin beeindruckt und verstört zurück.
Das glückliche Geheimnis
Arno Geiger
Hanser Verlag
2023
Beim Wort Doppelleben spitzen alle die Ohren und stellen sich eine zweite Familie, eine Geliebte oder ein Leben als Spion vor. Bei Arno Geiger ist es nichts dergleichen. Ich verrate jedoch nicht, was es war, nur soviel: Indem er sein Geheimnis lüftet, erzählt er über seine letzten 30 Jahre. Davon, dass er Dinge tat, die andere unterlassen. Wie gewunden, schmerzhaft und überraschend Lebenswege sein können, wie er als junger Schriftsteller gegen eine Mauer rannte, bevor der Erfolg kam und wie es ihn prägte. Wie er zu einer Menschenkenntnis kam, die andere nie auf diesem Weg erfahren. Mit grosser Offenheit berichtet er von Anläufen und Enttäuschungen, vom Finden und Wegwerden, von der wachsenden Sorge um seine Eltern und schliesslich vom Glück des Gelingens.
Die vier verborgenen Reiche
Abi Elphinstone
Carlsen Verlag
2022
Lesetipp von unserem jungen Leser Oskar: Caspar findet Abenteuer nicht so toll. Meist sitzt er in seiner Schulbibliothek, aber als er irgendwie nach Wolkenstern kommt, müsste er so wie er es immer macht, sehr viele To-do-Listen machen. Denn er, Wilda Undank und der Drache Arlo müssen mit einem Badewannenlift fahren und Rätsel von den Nieselhexen lösen, in dem Arlo eine grosse Hilfe war. Wilda und Caspar streiten viel und versöhnen sich auch immer wieder. Und da wäre noch der böse Morg, den sie besiegen müssen. Ob sie das alles schaffen werden?
Vor aller Augen
Martina Clavadetscher
Unionsverlag
2022
Auf unterhaltsame Weise lässt Martina Clavadetscher in ihrem Buch „Vor aller Augen“ 19 Frauen zu Wort kommen, die je auf einem bekannten Bild zu sehen sind, deren Namen aber nicht darunter stehen. Beginnend mit dem Bild „Dame mit Hermelin“, gemalt um 1489 von Leonardo da Vinci, bis zum Bild „Alice Childress“ aus dem Jahr 1950 von Alice Neel, gibt sie jeder Frau eine Stimme und lässt sie in der Ich-Form erzählen. Was als Theaterauftrag begann, hat sie zu einem Buch weiterverfolgt. Entstanden ist eine originelle Zusammenstellung durch fünf Jahrhunderte, durch viele Gesellschaftsschichten und verschiedene Kontinente. Vieles ist Fiktion, basierend auf Fakten, und doch werden wir bei jedem Bild von Jan Vermeer künftig an seine Tochter denken, die ihre Bilder als seine ausgab und teuer verkaufte. Jedes Bild braucht eine Geschichte, lebt durch sein Mysterium, und niemand würde wollen, dass sich das Rätsel löst und der Zauber verschwindet. Ein beeindruckendes Buch!
Schaut, wie wir tanzen
Leila Slimani
Luchterhand
2022
Nachdem sie in ihrem Roman „Das Land der Anderen“ das Leben des Ehepaars Mathilde und Amine Belhaj (sie Elsässerin, er Marokkaner) erzählte, welche in Marokko eine Farm aufbauten und durch viel Arbeit zu einem gewissen Wohlstand kamen, ist nun die Geschichte ihrer Tochter Aicha im Vordergrund. Aicha ist die erste in der Familie, die in Frankreich Medizin studiert und die nach vier Jahren Aufenthalt in Strassburg im Sommer 1968 nach Marokko zurückkehrt. In Frankreich gehen die Studenten auf die Strasse, der Ruf nach gesellschaftlichen Veränderungen wird laut, doch in Marokko scheint alles still zu stehen. Die Farm von ihrem Vater floriert zwar, ihre Familie jedoch fällt auseinander. Jeder wird zum Einzelkämpfer. Ihr Bruder verschwindet in einer Hippiekomune, ihr Onkel arbeitet beim Geheimdienst, ihre Cousine wird nach dem Tod ihres Vaters in ein Internat gesteckt und ihre Tante flieht aus der Enge der Familie in die Prostitution. In einer Bar in Casablanca lernt Aicha den brillanten Wirtschaftsstudenten Mehdi, den alle „Karl Marx“ nennen, kennen. Mit ihm wird sie ihr Leben verbringen und versuchen, den Zwängen der Gesellschaft zu entkommen, was ihr nur halbwegs gelingt, obwohl sie weiterhin als Ärztin arbeitet. Leila Slimani beschreibt das Leben der marokkanischen Oberschicht, welche wie die Kolonialisten aus Frankreich ihr Leben gestalten, beschreibt, wie sie ebenso dem Alkohol zugeneigt sind, Feste feiern, wie sie tanzen. Und die mittellosen Bauern schauen dabei zu, Zaungäste im eigenen Land. Auch wenn der Roman manchmal fast zu vielschichtig ist und man gerne mehr über die einzelnen Figuren erfahren möchte, nimmt er einen in einer unterhaltsamen Weise mit in die marokkanische Gesellschaft der 60er Jahre. Eine gelungene Fortsetzung und gespannt warten wir auf den nächsten Band der Trilogie!
Kangal
Anna Yeliz Schentke
S. Fischer Verlag
2022
Kangal, der türkische Hirtenhund, ist Deckname der jungen Dilek, die in Istanbul seit ihrer Teilnahme an Demonstrationen und seit dem Putschversuch 2016 in ständiger Angst vor staatlicher Repression lebt. Dilek und ihr Freund Tekin erleben Verhaftungen im Umfeld ihrer Freunde. Schliesslich flieht Dilek nach Frankfurt zu ihrer Cousine Ayla, mit der sie als Kind eng befreundet war. Doch die in Deutschland geborene Ayla und ihre türkische Familie haben eine andere Sicht auf die Verhältnisse in der Türkei. Sie besuchen die Türkei als Touristen, wählen „Parteien, die mein Land zu einem gemacht haben, in dem man nicht mehr bleiben kann“ und haben eine staatliche App auf dem Handy, mit der sie Oppositionelle denunzieren können. Dileks Freund Tekin will in der Türkei bleiben, hofft langfristig auf positive Veränderungen. Er sendet Dilek naiv unvorsichtig unverschlüsselte Nachrichten, die seine Freundin in Gefahr bringen. Wem kann sie noch trauen? Anna Yeliz Schentke beschreibt die Suche nach Identität, Vertrauen und Freundschaft einer jungen türkischen Generation und den Konflikt zwischen den in der Türkei und in Deutschland lebenden Türken in kurzen Episoden mit inneren Monologen der drei Hauptakteure. Ein mutiges Buch über ein wichtiges Thema.
Jahre mit Martha
Martin Kordic
S. Fischer
2022
Martin Kordić erzählt die Geschichte des 15jährigen Željko, genannt Jimmy, der als Gastarbeiterkind aus Kroatien mit seinen Eltern und zwei Geschwistern in einer 2-Zi-Wohnung in Ludwigshafen unweit der BASF lebt. Der Vater ist Bauarbeiter, die Mutter hat mehrere Putzstellen, u.a. bei Frau Dr. Martha Gruber, Professorin in Heidelberg. Als Željko in den Schulferien bei Frau Gruber im Garten arbeitet, beginnt eine zarte und außergewöhnliche Liebesgeschichte, die nach diesem Sommer mit einem nächtlichen Kuss am See endet. Martha verkörpert alles, wonach Željko strebt. Erst Jahre später haben die beiden wieder Kontakt, als er bereits mit Abitur und Stipendium zur Universität nach München geht und Martha um die Bürgschaft für eine Wohnung bittet. Sie bleiben über kurze Nachrichten leidenschaftlich in Verbindung, sehen sich oft Jahre nicht. Es ist keine Liebe auf Augenhöhe, Željko berichtet Martha über jeden seiner Schritte, über Martha weiß er kaum etwas. Als Martha ihn zur Trauerfeier seines Großvaters nach Kroatien begleitet, wird für Martha endlich aus Jimmy Željko und die Probleme der Identitätsfindung des jungen Mannes werden hier sehr deutlich. Martin Kordić beschreibt sehr eindrücklich das Streben Željkos nach einem Leben, das für ihn nicht vorgesehen ist. Die Geschichte fesselt die LeserInnen mit vielen überraschenden Wendungen, ein Buch, das man verschlingt.
Die Schuhe meines Vaters
Andreas Schäfer
Dumont
2022
Robert Schäfer, der Vater des Autors, liegt nach einem neurochirurgischen Eingriff im Koma. Der Sohn und seine schon 30 Jahre vom Vater getrennt lebende Mutter müssen über das Abschalten der Maschinen entscheiden. Nach dem Tod seines Vaters begibt sich der Autor auf die Suche nach der gelebten Vater-Sohn-Beziehung. Der Vater, für dessen Narzissmus sich der Autor als Kind und Heranwachsender geschämt hat, den er für die Herabwürdigungen seiner Mutter gehasst hat und den er doch nun nicht verlieren kann. Andreas Schäfer taucht ein in die Vergangenheit des Vaters, dessen Kindheit im Krieg und das schwierige Verhältnis zu den Eltern, die ihn später enterben, weil er eine Griechin heiratet. Andreas Schäfer beschreibt seine Annäherung an den Vater und wie seine Erinnerungen ihm Trost spenden. Eine zu Herzen gehende Lektüre über eine Vater-Sohn-Beziehung, über Erinnerung und Trauer.
Ewig Sommer
Franziska Gänsler
Kein & Aber Verlag
2022
Was früher sehnsüchtig erträumt war, ist inzwischen in großen Teilen der Erde eher ein Albtraum, der ewige Sommer. In Franziska Gänslers Debütroman befinden wir uns in einer süddeutschen Kleinstadt, einst Touristenziel, nun am Rande immer heftiger wütender Waldbrände, die den Aufenthalt im Freien lebensbedrohlich machen. Die Protagonistin Iris betreibt das von den Großeltern geerbte Hotel, das eigentlich keine Gäste mehr findet, bis plötzlich Dori mit ihrer kleinen Tochter Ilya vor der Tür steht. Die junge Frau, eine Schauspielerin, hadert mit ihrer Mutterrolle. Sie wird von ihrem Mann gesucht und verkriecht sich bei Iris im Hotel. Die beiden Frauen freunden sich an und obwohl Iris in Telefonaten mit Doris Mann von dessen Sorgen um die Tochter erfährt, verheimlicht sie den Aufenthalt der beiden, träumt schließlich sogar von einer Zukunft mit Dori und Ilya. Franziska Gänsler bindet diese Geschichte ein in eine geradezu apokalyptische Szenerie. Eine schier unerträgliche Hitze, Rauch und Asche aus dem nahen Wald hinter dem Fluss, Feuerwehren, Löschhubschrauber, eine untergehende Tier- und Pflanzenwelt, die Hilflosigkeit in einem Klimaaktivistencamp. Es ist Oktober und alle hoffen, dass der Regen doch noch kommt.
Die Nacht unterm Schnee
Ralf Rothmann
Suhrkamp
2022
Mehrfach vergewaltigt, vom Hunger gezeichnet, wird Elisabeth im Winter 45 von einem russischen Deserteur in einem Bunker gepflegt. Manchmal hört sie Schritte und stellt sich vor, wie sie gesucht wird. Doch dann denkt sie, dass sie gar nicht mehr weiterleben möchte. Aber sie kann ihrem Leben nicht ausweichen. Wie wohl viele in der Nachkriegszeit, begräbt sie ihre Gefühle in ihrem Innersten, deckt sie mit Arbeit zu, tanzt auf jeder Hochzeit, schlingert von einer Kirmes zur nächsten, süchtig nach Ablenkung. Doch da ist noch Walter, für den es nichts Schöneres gibt als das Leben auf dem Hof, die Landschaft und eben Elisabeth. Zusammen schuften sie als Melkerehepaar auf einem Hof in Norddeutschland, bekommen zwei Kinder und nachdem die Gutsherrin sie eines Diebstahls bezichtigt hat, werden sie entlassen. Sie ziehen in die Stadt in die Nähe der Schwiegermutter, Walter arbeitet unter Tag und Elisabeth ist mit den Kindern zuhause. An den Wochenenden geht sie tanzen, alleine, Walter ist zu müde. Erneut tingelt sie von einem Fest zum nächsten, versteckt ihre Angst vor den Männern hinter einer Bissigkeit, die alle um sie herum verletzt. Während der stille Walter sich mit seiner Geschichte unter Tag vergräbt, vermeidet seine Frau es, zur Besinnung zu kommen und lässt dabei ihre Zigaretten nicht ausgehen. Atemlos und spannend beschreibt Ralf Rothmann die Geschichte einer Frau, der das im Krieg erlittene Leid immer im Wege steht.
Alles, was wir nicht erinnern
Christiane Hoffmann
C.H. Beck Verlag
2022
Die Kriegsenkelin Christiane Hoffmann hat wie so viele ihrer Generation mit dem Schweigen des Vaters zu kämpfen, in ihrem Fall mit der Flucht des Vaters als 9 jähriger Junge an der Hand der Mutter aus Rosenthal in Schlesien im Januar 1945. „Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde“ ist alles, was der Vater erinnert und nach seinem Tod spürt die Autorin dieser Flucht nach, reist 75 Jahre später ins heutige Rózyna nach Polen, um den Fluchtweg des Vaters zu gehen, zu Fuß, alleine. Das Buch ist eine Mischung aus Familiengeschichte und Reisebericht. Hoffmann begegnet Menschen und Orten in Polen, Tschechien und Deutschland und schildert das noch heute schwierige Verhältnis zwischen diesen Ländern und auch der EU. Wir lesen ein sehr persönliches Buch über ihre Familie, den Krieg, die Heimat und Entwurzelung, das aber auch beängstigend aktuell wird angesichts des Russland-Ukraine-Konflikts und des tiefen Grabens zwischen dem Westen und Russland.
Tick Tack
Julia von Lucadou
Hanser Verlag
2022
Anfangs leicht verwirrt, da ich die Sprache in den verschiedenen sozialen Medien nicht gewohnt bin, hat mich das Buch trotzdem schnell in den Bann gezogen. Die Geschichte spielt während der Corona-Pandemie und handelt von der 15-jährigen Mette, die einen Selbstmordversuch auf den U-Bahn-Gleisen in Tik Tok-Videos ankündigt. Niemand reagiert – gerettet wird sie trotzdem. Durch eine Mitschülerin lernt sie deren 10 Jahre älteren Halbbruder kennen, der voller Wut den Kampf gegen den Mainstream und die Corona-Massnahmen anzettelt und Mette dafür rekrutiert. Er benutzt sie für seine Ideologie – sie durchschaut das Spiel nicht und wird in seinen Kampf reingezogen. Bis anhin das brave Mädchen, das überall die erwarteten Leistungen ablieferte, stösst sie nun Lehrer und Eltern vor den Kopf und geht auf Konfrontation. Und zwischendurch erscheint immer wieder das unsichere, verzweifelte Mädchen. Julia von Lucadou zeichnet den Weg der Radikalisierung und Manipulation im Netz gekonnt auf und es entsteht ein spannender Roman, der uns mit viel Witz die Probleme der Jugendlichen mit Schule, Elternhaus und einfach dem Leben selbst aufzeigt. Alt fühlt man sich danach trotzdem ein bisschen.... ☺.